Offenbar ist die Fähigkeit zu glauben, oder sollte man nach dem Gesagten nicht besser formulieren: die Unfähigkeit in möglichst jeder Situation frei zu denken, eine Sache der Erziehung. Doch wer dabei nur an religiöse Normen und Tabus im engeren Sinne denkt, der irrt.
Denn bereits die bedauerliche Tatsache, dass ganz verschiedene Religionen in der Lage sind dieselben seelischen Defekte hervorzurufen, die Menschen dazu bringt, andere zu verbrennen um sie zu retten, als Untermenschen zu betrachten (ja, auch der Nationalsozialismus ebenso wie der Kommunismus ist eine Religion mit Dogmen und Tabus), als Ungläubige mit dem Schwert zu bekämpfen, als unwerte Heiden etc pp. zu vernichten zu töten und zu Feinden zu erklären, zeigt, dass hier ein grundlegenderes Phänomen am Werke ist. Ein Phänomen, das nicht nur den Glauben betrifft, sondern auch allgegenwärtige weltliche Muster und Zwischentöne. Doch wollen wir uns zuerst dem Glauben zuwenden, denn an diesem Beispiel lassen sich die Dinge so klar und unzweideutig beschreiben.
Das dem zugrunde liegende Prinzip ist ein allgemeineres, ein grundsätzliches. Es geht dabei um Indoktrination durch Wiederholung und scharfe Sanktionierung auch nur des geringsten Versuches eines in-Frage-stellens, gar nicht zu Reden vom blanken Verstoß. Die Methode: Es ist stets verbal und jeder anderen denkbaren Weise zu wiederholen was die ‚Wahrheit’ ist, zum Beispiel im Gebet. Jedoch wird die härteste seelische Qual vollzogen, sobald auch nur die Andeutung von Skepsis oder Widerstand sich zeigt: Entzug von Aufmerksamkeit, Androhung von Qualen im Diesseits wie – noch schlimmer weil nicht einschätzbar – ewige Qualen im Jenseits. Eine Drohkulisse wird aufgebaut, die nur einen Weg offenläßt: Wiederholung der behaupteten Wahrheit und Bannung jedes alternativen Gedankens – Gott ist Gedankenleser, er sieht alles, also denke nicht einmal etwas, das ihm nicht gefallen könnte. Seelische Zwangsjacke.
In jedem anderem Zusammenhang, außer natürlich mit dem hohen (heiligen) Ziel der rechten Erziehung (zum Glauben) würde man solches Vorgehen zurecht als Gehirnwäsche bezeichnen – in den Religionen ist es akzeptierte Norm. Religionserziehung ist praktizierte und gesellschaftlich und zivilisatorisch akzeptierte Gehirnwäsche.
Und dieses strenge Vorgehen von Gebot und Verbot funktioniert prächtig: es hinterlässt verwüstete Bereiche in der Seele in denen alle verbliebenen Denkvorgänge nur noch auf die Eine einzig mögliche Überzeugung – den emph{Glauben} – hin ausgerichtet sind. Es hinterlässt Monokulturen von Meinungen, wo sich die orthodoxe Lehre, das stetig Wiederholte, so tief eingebrannt hat, dass alternative Denkweisen nicht mehr möglich sind, weil sie bis in die tiefste Seele als Verboten gebrandmarkt und mit drakonischsten Strafen und schärfsten Ängsten direkt verknüpft sind.
Das hat eine schlimme Folge: Das in-Frage-stellen dieser Glaubenssätze durch Dritte ruft massive Emotionen von Angst, Entsetzen, Wut, Hass, bis hin zu Todesangst und Angst vor eigener Verdammnis über die Infamie der Frage selbst hervor – heftigste Reaktionen hervorgerufen durch über lange Zeit angewandte Seelenqual zu diesem Thema, wie eine zum Zerreißen gespannte Feder, die plötzlich platzt.
Doch ist dies nicht Bug sondern Feature. Der Glauben-Macher hat erreicht, was er will. Nicht nur, dass er einen Glaubenden hat, er hat sogar einen Missionar, einen Dshihadisten seiner Sache, einen der, paradoxerweise in totaler Ignoranz des ihm zugefügten Schmerzes, von nun an mit Flamme und Schwert bekämpft, was den ihm aufgezwungenen Glauben kompromittiert – nämlich genau gegen alles, was seiner tiefen Indoktrination Zweifel entgegenbringt und ihm damit jene Angst, jene Beschämung, jenen Schmerz zufügt, die er während seiner Indoktrination bei Zweifel oder Hinterfragen selbst hatte erleiden müssen. Er bekämpft das in-Frage-stellen des Tabus und verbreitet dabei aktiv sein Tabu auf andere indem er sie mit denselben eklatanten Sanktionen belegt, die er selbst erlitten hat.
Und damit wird auch klar, warum das Leid, die Selbstgeiselung, die Entsagung, das Martyrium, in vielen Religionen als positiv, sinnstiftend, Erleuchtung förderlich bewertet wird: Das Leid ist der Totmacher der eigenen Meinung und des eigenen Denkens, es ist der Wegbereiter des Glaubens. Selbstkasteiung wirkt in der Tat den Glauben stärkend, weil es die Vernunft unter ihrem Leid begräbt.
Und dieses Leid bleibt. Es ist im Glaubenden persistent und es verbreitet sich auf Andere wie eine Krankheit – denn es ist eine Krankheit… eine Krankheit der Seele.
Offenbar ist die menschliche Seele nicht imstande, mit aller Macht und dazu oft genug in Kindesjahren eingeprägte Tabus zu überwinden, oder wenigstens nur unter erheblichem Aufwand. Der viel einfachere, der vorgegebene Weg ist, alles zu vermeiden, was diese Tabus verletzt oder in Frage stellt – also im Grunde jene Angst und jenen Schmerz zu vermeiden der mit diesen Tabus unauslöschlich in Verbindung gebracht, fest einprogrammiert wurde. Direkte Folge davon ist, all Jene, die diese Tabus schlicht nicht teilen als absoluten Feind zu betrachten und entsprechend hart und unnachgiebig mit totalem Krieg zu bekämpfen (es entsteht der Ungläubige, der Heide und sein Feind der Missionar, der Dschihadist). Der Feind ist der Ungläubige, der der Zweifelt, der, der noch frei denken kann dort, wo denken nicht erlaubt ist.
Was erstaunlich ist, denn für den Außenstehenden Betrachter ist eines völlig offensichtlich: dass der Feind nur der ist, der dem Glaubenden dieses Glauben aufgezwungen und ihn während dieses Vorganges durch das Glauben machen seelisch verkrüppelt und tief traumatisiert hat.
Doch dies wird nicht erkannt, denn jene strenge krasse Ausrichtung allen Denkens auf nur eine einzige Konsequenz hin hat für den Glaubenden auch mehrere Vorteile: er ist von nun an Teil eines höheren transzendenten Machtsystems, er erspart sich Unsicherheit und Skepsis, es gibt nur noch eine Wahrheit, eine Konsequenz und diese ist absolut, ohne ein Zweites, ohne Alternative, ohne Widerpart. Der Glaubende lebt in einer perfekten Welt aus Schwarz und Weiß, er lebt in dem Wahn perfekt unterscheiden zu können, was gut und was böse ist, ist frei von Zweifel und Skepsis. Er ist, wie gerne gesprochen wird ‚erleuchtet‘ oder ‚erweckt‘ oder auch ‚clear‘, egal aus welcher Religion oder Sekte, es ist alles dasselbe. Kritische vernunftorientierte Skepsis, selbständiges Denken, dieser kraftraubende und teils schmerzhaft anstrengende Vorgang konzentrierter Nutzung des Gehirns, weicht einem Zustand von erlebter Klarheit, alle Fragen sind geklärt, alle Zweifel beseitigt, Ziele klar definiert, die Lehre von außen vorgegeben, das System aus Glaubenssätzen absolut und hermetisch.
Und nicht zuletzt beißt sich das System hier erfolgreich in den eigenen Schwanz: der Glaubende ist so beseelt von seiner Freiheit von Skepsis, so gefestigt in seiner geistigen Unfreiheit, dass er natürlich auch jedem Versuch von Skepsis an seinem eigenen Denksystem abschwört und lieber badet in seiner erlebten perfekten Trennschärfe zwischen Gut und Böse, an einer Skepsis der eigenen Überzeugung grundsätzlich nicht mehr interessiert, vielleicht sogar nicht mehr dazu fähig ist. Der Glaubende wird zum Wahrheitsträger per se, zu eine Art Gott seiner Selbst, er muss nicht mehr zweifeln, hadern, korrigieren, eigene Fehler erkennen und verbessern, Unsicherheit ertragen, Unklarheit beseitigen, Unvollkommenheit akzeptieren – er *weiss* er hat Perfektion für sich erlangt.
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