Versetzen wir uns zurück in eine Zeit vor 50 oder 100 Tausend Jahren. Damals wanderte der Homo Sapiens über das Antlitz der Erde auf der Suche nach neuen Gefilden und verbreitete sich langsam aber beständig über die ganze Welt.
Es gab Dinge, die zu wissen für das Überleben unabdingbar waren. Dinge, die von Generation auf Generation weitergegeben werden mussten, um den Lebensstandard zu halten, um in der feindlichen und durch viele Bedingungen lebensbedrohlichen Umwelt in den neuen Ländereien, die weiter im Norden liegen mochten, als je Menschen dieser Sippe vorgedrungen waren.
Wissen weiterzugeben und im Gedächtnis der nachfolgenden Generation zu verankern war von jeher die Kernkompetenz dieser schwächlichen, haarlosen Schimpansenart. Es war seit je her ihr Vorteil, statt Stärke Schläue und statt Widerstandskraft Wissen und statt Durchsetzungsvermögen Denken zu praktizieren. Ein Dasein fokusiert auf die Qualität und niemals auf die Quantität. Ein Leben am Rande der Ausrottung, dafür jeder einzelne von der Macht eines Gottes, dank seines Verstandes und seiner Fähigkeit Werkzeuge zu nutzen und dieses Wissen zu tradieren.
Stellen wir uns weiterhin vor, dass das Verhältnis zwischen den Generationen niemals anders war, als es auch heute ist. Die Jungen, voller Tatendrang und Wagemut, die Alten voller Mitteilsamkeit und Wissen. Doch die Kommunikation zwischen beiden: mangelhaft. Die Jungen hören nicht zu, die Alten wollen sich nicht auf das neue Denken der Jungen einlassen.
Doch eines ist überlebensnotwendig für die Sippe: die Besonnenheit, das Wissen der Alten zu bewahren und die Einsicht der Jungen, es ihnen gleichzutun, wie sehr sie auch meinen mögen es besser zu können.
In einer Welt in der Sprache nicht die Ausgestaltung, Detailschärfe und Vielgestaltigkeit der Begriffe und Beschreibungen kannte, in der das abstrakte Denken kaum entwickelt war und in der die Klarheit des Verstandes mehr als heute vorstellbar von Gefühlen, Affekten und Träumen beeinflusst war, war klare Kommunikation schwer, weil klare Erkenntnis schon nicht weit verbreitet war.
Also wurden die Dinge, die wirklich wichtig waren, tradiert zu werden, die Wahr- und Weisheiten, die entscheidenden Beobachtungen und Fakten zu emph{heiligen} Dingen. Ihre Bedeutung konnte nicht stärker betont werden als durch dieses Attribut. Die Wichtigkeit ihnen nichts hinzuzufügen, was ihren Wert schmälern würde und – noch wichtiger – auch nichts hinweg zu lassen, was dasselbe bedeuten würde, konnte nicht genug betont werden. Es waren heilige Dinge, denn dies war das eherne Wissen, das mehr als alles andere das wichtigste vom Wichtigsten bedingte: das Überleben der Sippe und des Einzelnen.
Dass diese Heiligkeit und Unveränderbarkeit den Makel mit sich brachte, dass emph{neues Wissen} und neue Entdeckungen es unmäßig schwer hatten, diesen ehernen Weisheiten an die Seite gestellt zu werden und sich erst lange bewähren mussten, vielleicht sogar bekämpft wurden, als feindliches Kätzertum verunglimpft wurden, war und ist eine Schwäche solcher stark emotionalisierter Systeme bis heute. Wer die Affekte der Menschen nutzt, um die Bedeutung seiner Botschaft zu betonen und zu überhöhen, mag dies durchaus zurecht unternehmen, doch geht er damit auch das Risiko, statt Kenner und Wissende Gläubige und Kämpfer für die emph{Heilige Sache} zu erziehen, was auf einer größeren Skala gedacht der Sache des Überlebens weniger dienlich ist. Wir entnehmen an dieser Stelle: Wissen und Tradierung ist vor allem dann nützlich, wenn es frei von Emotion erlebt und jederzeit skeptisch geprüft und nüchtern und klar weitergereicht wird, anstatt zur emotionsgeladenen heiligen und Heilslehre zu werden, die erstarrt und die wichtigste Eigenschaft entbehrt, die Erkenntnis haben kann: ihre eigene Relativität und Anzweifelbarkeit. Wann immer Menschen ihren Fortschritt selbst blockiert haben, geschah dies aus diesem Grund: weil die Lehre selbst wichtiger wurde, als ihr ursprünglicher Zweck, weil das Wort verfochten wurde, statt der Inhalt, weil die Botschaft Selbstzweck wurde, statt über die Dinge des Lebens zu unterrichten, weil die Emotionale Bindung an die Form wichtiger wurde, als die Information, die sie tradieren sollte.
Doch ganz am Anfang mögen es die ganz elementaren Dinge des Überlebens gewesen sein, die überliefert, weitergegeben und im kollektiven Wissen der Sippe gespeichert wurden.
Also war es das Wissen um die Jagt, das Wissen um das Gott-gleiche Mammut, seine Weidegründe, seine langen Wanderungen im Herbst und Frühling, sein Verhalten, wenn es sich verteidigen musste. Das Mammut brachte alles, was die Menschen brauchten. Fleisch, Knochen, Fell. Es war Lebensspender und Feind zugleich, der große Gott der Frühmenschen in den endlosen Ebenen zwischen Hindukusch und Pyrenäen.
So mag die erste Religion entstanden sein. Das tradierte Wissen über den Lebensspender Mammut, das wissen über seine Jagt, seine Lebensweise, seine Nutzung. Darüber hinaus das Wissen über heilende Kräuter und die Beherrschung des wärmenden Feuers, die Herstellung der hilfreichen Werkzeuge und wie und wo man Wasser und andere Nahrung finden konnte.
Um all dies nicht zu verlieren, ohne eine differenzierte moderne Sprache – man bedenke, dass es selbst heute noch Stämme im Amazonas-Urwald gibt, die als Zahlwörter lediglich zwischen eins und zwei unterscheiden, wobei die Worte für ‚zwei‘ und ‚viele‘ annähernd gleich klingen –, ohne die Möglichkeit der Schrift, ohne dass die heute denkbaren Zerstreuungen diese Menschen kaum je lange von der Aufgabe ihres Lebens – dem Überleben – abgelenkt haben mochte, so wurden diese Dinge zum zentralen Thema all der Zeiten, die nicht mit Nahrungserwerb oder Nahrungsaufnahme – oder anderen Dingen akuter Priorität – zugebracht wurden. Diese Dinge weiterzugeben, sie zu untersuchen und weiter zu perfektionieren, all diese Beschäftigung mit den Kernaspekten des Überlebens wurde zum Kult und zum Gegenstand endloser zugleich Kunst-, Handwerks- und Lehrveranstaltungen.
Eine Trennung zwischen Wissensweitergabe und Musik, zwischen Wandmalerei und Tafelanschrift, zwischen Kult, Religion und Wissenschaft war noch nicht vollzogen. Ebenso wie ihr Leben, ihr ganzes Dasein, war noch alles eins. Und doch war jene erste Religion zugleich auch die erste Wissenschaft – auch wenn ihr unorthodoxes Vorgehen kaum auch nur eine der heute an die Wissenschaft angelegten Kriterien erfüllt hätte.
Mit aller Mühe, die möglich und erforderlich war, brachte man Wissen auf und gab es weiter. Schmückte aus und verzerrte unwillentlich zum Schaden der Lernenden. In den Strudel des zu Glaubenden gerieten auch andere Dinge, nur am Rande von Bedeutung, doch dem Zweck einzelner in diesem Moment sehr entsprechend. Gebrauch und Missbrauch gingen von Anfang an Hand in Hand.
So mag es begonnen haben. So mag die Religion einst die erste Wissenschaft gewesen sein, bis sie von einer besseren, stärkeren, weil klarer und kritischeren, weniger für Missbrauch anfälligeren und weit nützlicheren abgelöst wurde. Am Ende sind Religion und Wissenschaft keine unvereinbaren Gegensätze, sondern Brüder im Geiste, wenn auch der archaische von beiden der Kraft des Jüngeren nur wenig entgegenzusetzen vermag. Einstmals mühte der Ältere sich sehr, zu bestehen und zeigt seine Schwächen erst im Angesicht des Jüngeren.
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