In der Betätigung der Wissenschaften sind zwei verschiedene Felder zu unterscheiden, die aber leider nicht selten ununterschieden bleiben. Zum einen das Vorantreiben der vordersten Front des Wissens hinaus in unbekannte Gebiete, resp. die Verfeinerung des Wissens zur immer detailierteren Abbildung der Funktionsweise der Dinge – die Wissenschaft im engeren Sinne. Zum Zweiten gibt es die Geschichtsschreibung und insbesondere auch die Geschichtsschreibung der Wissenschaften selbst, also der Speicherung und Analyse der zeitlichen Entwicklung der wissenschaftlichen Disziplinen, gerne genommen dabei auch deren Einfluss auf die jeweilige Zeit, sowie die Untersuchung der Einflüsse der Zeit und deren Strömungen, Ideen und Geisteswelt wiederum auf die Wissenschaft.
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Geschichte oder nicht, das ist nicht die Frage. Erstaunlich ist, dass diese Unterscheidung in der Praxis nicht diszipliniert betrieben, nicht vorgenommen, noch nicht einmal thematisiert wird. Und das obwohl in sehr unterschiedlicher und durchaus irrationaler und unkontrollierter Weise mit diesem Umstand in den verschiedenen Fakultäten umgegangen wird.
Besonders deutlich wird dies, wenn man die naturwissenschaftliche und die geisteswissenschaftliche Herangehensweise vergleicht. In den Naturwissenschaften, sei es Physik, Chemie oder Biologie wird die historische Entwicklung der jeweiligen Disziplin als geschlossenes Schaubild ansich nicht thematisiert. Die Inhalte werden weitgehend unabhängig von historischen Konnotationen vermittelt, eine evolutionäre Abfolge einzelner bedeutender Entdeckungen wird nicht als eigener Informationsstrang dargeboten, maximal wird auf den Entdecker einer besonderen Erkenntnis verwiesen, samt dessen unausweichlichen Lebensdaten. Wer von wem beeinflusst wurde, wie diese Entdeckungen aus anderen Disziplinen flankiert wurden, wird beinahe komplett ausgespart. Die Geschichte der Physik ist damit nicht Gegenstand des Lehrfaches Physik und findet sich auch in den Fachgebieten von Lehrstühlen oder wissenschaftlichen Arbeiten dieser Disziplin nicht. In der Chemie, in der Biologie und anderen Naturwissenschaftlichen Fächern ist die Situation vergleichbar. Der Fokus liegt auf dem Inhalt, auf dem heutigen Stand der Dinge, nicht auf ihrer historischen Entwicklung. Das Alter einer Entdeckung ist nur homöopathisch Teil des vermittelten Wissens, ebenso wie die Zweifel an seiner Stichhaltigkeit oder gar Verweise auf spätere Verfeinerungen.
Die Naturwissenschaften präsentieren sich also mit großer Freude als ebenso ewige und zeitlose Disziplin, wie ihr Untersuchungsgegenstand nicht Gegenstand von Moden oder Zeitgeist ist. Doch dies ist natürlich beinahe ein Etikettenschwindel. Ganz ähnlich hat auch die Kirche versucht, die ewige Unfehlbarkeit ihres Gottes auf sich abfärben zu lassen, bis hin zu der grotesken Einrichtung eines Stellvertreters Gottes auf Erden – den Papst – der genau dieser verqueren Sicht zufolge eben genau so unfehlbar ist, wie sein Gott selbst.
Die Physik und andere Naturwissenschaften stellen sich hier traditionell ganz analog auf und bemühen implizit die Assoziation, dass aus demselben Grund wie die physikalischen Gesetze ihrer Natur nach – und nach allem, was man vermutet – auf sehr langen Zeitskalen unverändert gelten, gilt dieselbe halb-göttliche Ewigkeit auch für die wissenschaftliche Disziplin, die sich ihrer Untersuchung gewidmet hat.
In mancherlei Hinsicht gönnen sich die Wissenschaften, …